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Leseprobe: Lucky Man

(Tintagel Tales)

Aus dem Wald
Millipher blinzelte benommen.
Es war der Wald rundherum, aber es gab keine Spur mehr von Rolph.
Und genaugenommen schien es auch nicht mehr dasselbe Waldstück, in dem sie mit ihm unterwegs gewesen war, denn hier war auch die Talsperre neben dem Weg verschwunden, kein Tropfen des Wassers mehr zu sehen.
Millipher schauderte während sie sich langsam aufrappelte, sich nicht begreifend nach allen Seiten umsah.
Ein von Laub bedeckter Waldweg schlängelte sich nach links und rechts davon, gegenüber befand sich eine Felsengruppe, hinter der die Bäume dichter wurden.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern wie sie hierher gekommen war.
Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war sie Beide, verbotenerweise Hand in Hand, auf ihrem Weg um die Talsperre.
Jetzt war sie hier, alleine, in diesem Waldstück, das einfach nicht mehr nach Talsperre aussah, und das auch das leise Geräusch des Schlagens der kleinen Wellen an das Ufer vermissen ließ.
Ebenso schien der warme Sommertag verschwunden.
Kein Sonnenstrahl durchdrang das bunte Blätterdach, das mehr nach Herbst aussah und zudem deutliche Lücken aufwies, die den Blick auf den dicht grau verhangenden Himmel freigaben.
Millipher fröstelte prompt.
Hilfesuchend sah auf ihre Armbanduhr.
Sie war stehengeblieben.
Der grazile Sekundenzeiger bewegte sich nicht mehr, ebenso wenig wie seine beiden etwas stabileren Kollegen, die die Uhrzeit des Nachmittages anzeigten.
Millipher griff rasch, mit merkwürdig kribbelnden Händen, zu ihrer Tasche, die nach wie vor über ihrer Schulter hing, und kramte darin nach ihrem Mobiltelefon.
Das ihr wohlbekannte Bild des Displays kam ihr im ersten Moment befremdlich leer vor; es dauerte ein paar Sekunden bis sie registrierte, dass das Betreiberlogo von dort verschwunden war.
Normalerweise bedeutete das, dass es keinen Empfang hatte, dennoch blätterte sie hastig im Telefonbuch des Menüs nach Rolphs Telefonnummer, bestätigte sie am Display.
Doch das Telefon blieb stumm, kein elektronisches Knacken zeigte ihr zumindest den Versuch einer Verbindung an.
Millipher sperrte es und ließ es sorgsam zurück in ihre Tasche gleiten, schüttelte ihre nach wie vor kribbelnden Hände wie lästige Anhängsel.
Zudem schmerzte ihr Nacken.
Es war keine Verspannung, es war mehr ein oberflächlicher heller Schmerz an der Haut.
Als sie mit der Hand dorthin tastete spürte sie, dass sich das Band mit dem Stein, das sie getragen hatte, nicht mehr um ihren Hals befand.
Verwundert wandte sie sich ein wenig um, sah suchend zu der Stelle, an der sie gesessen hatte.
Eine Bewegung an einem der Felsen, nur so eben aus ihrem Augenwinkel erhascht, erregte ihre Aufmerksamkeit.
Das Band, das sie vor ein paar Minuten vielleicht noch um ihren Hals getragen hatte, baumelte in dem Herbstwind, der hier auf dem Weg die verdorrten Blätter durcheinander wirbelte.
Es befand sich noch immer durch das Loch in dem kleinen dunklen Stein gezogen, der wie angeklebt knapp in ihrer Augenhöhe an einem der Felsen pappte.
Irgendetwas musste ihn ihr mit unvorstellbarer Kraft vom Hals gerissen haben.
Millipher fand dies nicht so merkwürdig wie den so ganz unvermittelten Wechsel ihrer Umgebung.
“Dann scheint es ja ein richtiger Magnetit zu sein.” meinte sie zu sich und machte die wenigen Schritte zu dem Felsen um den Stein dort wieder abzunehmen.
Sie hatte ihn zusammen mit ihrer Freundin in einem kleinen Esoterik-Laden gegen ihre Verspannungen gekauft, und sie wollte ihn auf keinen Fall hier lassen.
Er war ungewöhnlich warm als sie ihn vom Felsen zog und sie musste sich ein wenig anstrengen um ihn los zu bekommen; die Steingruppe schien von Metall durchzogen zu sein.
Doch sie machte sich keine weiteren Gedanken darüber, denn sie hatte weitaus anderen Probleme als Magnetismus.
In welche Richtung sie wohl am Besten ging um zur nächsten Ortschaft zu gelangen, zum Beispiel.
Noch während sie ein wenig amüsiert überlegte, ob sie das wohl mit Hilfe des Magnetiten auspendeln sollte, hörte sie ein Geräusch.
Bei angestrengtem Lauschen hörte es sich an wie Pferdehufe, die sich rasch näherten, Millipher schwankte sekundenlang, ob sie sich lieber hinter dem Felsen verstecken oder doch um Hilfe bitten sollte.
Dann war es zu spät.
Ein braunes Pferd mit schwarzer Mähne erschien auf dem Weg, und der Reiter würde sie somit gesehen haben.
Millipher bemühte sich um eine zugewandte, lässige Körperhaltung, die keinesfalls hilflos wirken sollte.
Pferd und Reiter kamen rasch näher...

Biografie: Über mich
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